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Spurensuche in Korea

1943 errichtete die Glanzstoff AG in St. Pölten ein Lager für Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie. Heute finden sich davon nur noch einige Meldezettel und ein Bunker in der Au.

Text & Fotografie: Manfred Wieninger
Ob man als gefeierter Künstler im Wiener Museumsquartier oder auf der documenta in Kassel hochartifizielle Installationen aufbaut oder bloß sein eigenes Wohnzimmer dekoriert, hängt bei einer gewissen Grundbegabung wohl nur von ein paar biografischen Zufällen, von einer Reihe von richtigen oder richtig falschen Entscheidungen ab. Kevin-allein-zu-Haus, so will ich diesen eigenartigen, bisher völlig verkannten Artist in Residence nennen, hat sich jedenfalls offenbar gegen eine Karriere im Kunstbetrieb entschieden. Stattdessen verwirklicht er seine ästhetischen Konzeptionen auf einer innerstädtischen Gstätten im Norden von St. Pölten.

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Dort, auf einem kläglichen Überrest der Viehofener Au, auf einem weitläufigen Areal westlich des Flusses Traisen beziehungsweise des Traisen-Radweges, östlich der Austraße, südlich der Dr.-Doch-Gasse und nördlich der Abwasseraufbereitungsanlage der ehemaligen Glanzstoff-Fabrik, wohnt Kevin-allein-zu-Haus auch, und zwar in einem ehemaligen, halb eingestürzten Luftschutzbunker. Vermutlich ist dieses halb verschüttete Loch in der Erde, dessen Betonboden und -wände er mit allerlei alten Textil- und Deckenresten sowie sonstigem Müll liebevoll ausgestattet hat, nur sein Zweitwohnsitz, sein Schlafquartier in der warmen Jahreszeit, wenn er an lauen Sommerabenden wieder einmal zu viel, viel zu viel getrunken hat, um Einlass in die Notschlafstelle der St. Pöltner Emmaus-Gemeinschaft zu finden, wo striktes Alkoholverbot herrscht.

Trotzdem investiert Kevin-allein-zu-Haus offenbar seine ganze Schaffenskraft, seine ganze unbändige Schöpferlust in seinen Sommerwohnsitz, in sein Castel Gandolfo quasi. Rund um sein Schlafnest sind Bäume und Büsche überreich dekoriert. Jeder Strauch, jeder Zweig ist mit verschiedenfärbigen Wäschekluppen, Zuckerl-Einwickelpapierln, Kondomen, Streifen aus Stoff und Alufolie, bunten Verpackungsresten, leeren Milchpackerln, leicht beschädigtem Weihnachtsschmuck, Kerzenresten, Bananenschalen, leeren Schnapsfläschchen und Bierdosen geschmückt.

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Ab Oktober gibt es auch immer wieder einen definitiven Weihnachtsbaum, wenn es sich auch nicht um ein Nadelgehölz, das in dieser Au nicht gedeihen kann, sondern um eine Esche oder Erle handelt. Kevins bevorzugtes künstlerisches Material sind Blumendraht beziehungsweise Schnur- und Bänderreste, vor allem aber die klassische, grün-goldene Gösser-Gold-Bierdose, wie die zahlreichen leeren Behältnisse an Gebüsch und Gesträuch beweisen. Seltsamerweise ist seine künstlerische Spielwiese in der Au, sein Freilichtatelier umgrenzt von achtzig, neunzig oder mehr uralten Zaunpfeilern aus nacktem Beton, zwischen denen im morastigen Boden gelegentlich Reste verrosteten Stacheldrahts zu finden sind. Manche der Spitzen dieser Pfeiler werden von ihm mit verschiedenfärbigen Plastiksackerln überstülpt, die wiederum mit Schnur- und Drahtresten festgezurrt sind. Seine Kunstausübung ist – jedenfalls aus meiner Sicht – als geradezu gotisch zu bezeichnen, da Kevin seine Werke nicht signiert und das Werk damit über seinen Schöpfer stellt. Selbst ich, der ich mich als einen der wenigen ernsthaften Rezipienten seiner Kunst bezeichnen darf, habe den Künstler noch nicht einmal zu Gesicht bekommen.

Vielleicht ist das auch ganz gut so, denn ich müsste dem mittlerweile von mir geschätzten Künstler über kurz oder lang wohl gestehen, dass ich mich anfangs überhaupt nicht für sein im besten Sinne eigenwilliges Werk interessiert habe, sondern eigentlich nur für den Stacheldraht, den man rund um sein San­dlernest überall in dieser Au findet, und für den eigenartigen Namen, den ältere Einheimische aus der Gegend für die Gstätten, in der Kevin residiert und die er unablässig seinem starken künstlerischen Gestaltungswillen unterwirft, noch kennen: „Korea“.

In meiner Kindheit spielten die Erzählungen, die kleinbürgerlich-bäuerlichen Mythen und Anekdoten meiner Familie ausschließlich im Weinviertler Städtchen Eggenburg, im Raum Eichberg-Weitra im Waldviertel und in Wien. Ich wurde als Erster meiner Familie in St. Pölten geboren, ohne dass mir in der Folge familiär irgendetwas über die Geschichte dieser Stadt überliefert worden wäre. Schon als Kind habe ich das irgendwie als Defizit empfunden. Daher vermutlich meine immer wieder aufkeimende Passion für die Stadtgeschichte der nunmehrigen niederösterreichischen Landeshauptstadt, mein subjektiv motiviertes erkenntnisleitendes Interesse, das sich auch sofort am alten Stacheldraht von Kevins Freilicht­atelier in der Viehofener Au entzündete, als ich vor einigen Jahren beim Schneeglöckchenpflücken im wahrsten Sinne des Wortes darüber stolperte.

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Ich bin dort aber nicht nur auf jede Menge verrosteten Draht gestoßen, sondern auch auf die Reste eines hölzernen, ebenfalls mit Stacheldraht gesicherten Tores, auf von der Au fast ganz überwucherte Betonfundamente und auf einen halb verschütteten Bunker, den sich ein Sandler – eben Kevin-allein-zu-Haus – als Nest eingerichtet hatte. Das allein hätte vielleicht noch nicht ausgereicht, um mich auf Spurensuche zu begeben. Es waren, im Nachhinein betrachtet, wohl auch die Bad Vibrations, die dieser seltsame Ort in der Au ausstrahlte, sein dunkler Genius Loci, der mich fragen ließ, was an diesem vom Auwald offenbar wieder überwucherten Platz einmal gewesen sein könnte. Die allererste Antwort, die ich von einem Spaziergänger am Rande des Areals erhalten habe, war so falsch nicht, wenn auch laienhaft skurril. Das sei, meinte der Mann meines Alters, im Weltkrieg ein Gefangenenlager mit lauter Franzosen gewesen.

Danach habe ich jede Menge Staub in Archiven geschluckt, am Schluss meiner Recherchen stand die Aussage einer Zeitzeugin, die mit ihrer Mutter in den Kriegsjahren in der Nähe einen Schrebergarten bewirtschaftete und sich folgendermaßen an Kevins künstlerische Spielwiese erinnerte: „Da hat sich keiner hingetraut, denn da sind Soldaten mit Gewehr gestanden. Da hast du nie etwas gehört, nur Schüsse hie und da.“

Als 766. Verstorbene des Jahres 1945 ist im Totenbuch der Stadt St. Pölten – einer dicken schwarzen Kladde, die im Stadtarchiv aufbewahrt wird – die 22-jährige Kindergärtnerin Matta Tschernowa verzeichnet. Sie starb am 19. April 1945 um 13.21 Uhr im St. Pöltner Krankenhaus an den Folgen eines Bauchschusses. Zwei Tage später wurde sie am Hauptfriedhof begraben. Am 14. Mai 1946 wurde sie exhumiert und im Schachtgrab 25 b der Reihe VI wieder beigesetzt, einer Reihe von unbezeichneten, bis heute namenlosen Schacht- bzw. Wiesengräbern, in denen in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit hunderte Menschen bestattet worden sind: Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, Bombenopfer ohne Angehörige, verstorbene Insassen des Altersheimes in der Ertlstraße, einige ungarisch-jüdische Insassen eines weiteren Zwangsarbeiterlagers in der Viehofener Au, tödlich verunfallte Auswärtige und sogenannte Volksdeutsche, russische, deutsche und ungarische Soldaten sowie auch einige exekutierte Deserteure und Plünderer.

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