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Franz Schuh: Verbrechen & Strafe

Im Großen und Ganzen

SCHUH
Das geniale Ganze

Die Gesellschaft hält irgendwie zusammen. Auch der Staat fällt nicht auseinander. Irgendwie nicht, und das Irgendwie funktioniert doch ganz gut. Man kann für den Krampf des geglückten Existierens eine Beschreibung benützen, die Robert Musil im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ für die altösterreichische Monarchie verwendete: „… es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz …“ Aber alle Anleihen bei Kakanien verbieten sich, weil damals nicht zuletzt der Untergang von einer imposanten Größe war. Zum Glück ist diese Größe Erinnerung, zum Unglück ist das Mickrige ihr Ersatz und unser einigendes Band geworden. Musil konnte noch schreiben, die Zoologie lehre, „dass aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann“.

Ich bin ja auch so ein Wackelkanditat: Ich habe für den Beitritt Österreichs zur EU gestimmt, obwohl ich gegen sie war. Dass die EU jenes geniale Ganze sei, als das Mock sie verkaufte, glaubte ich nicht. Ich war primitiv, also angemessen antikapitalistisch gestimmt: Das Großreich, dessen Beitritt uns den Ederer-Tausender bescheren würde, war für mich ein Ableger von „freedom and democracy“, durch den die Interessen der Reichen gewahrt bleiben würden.

Die Begeisterung der österreichischen Politiker für die EU erklärte ich mir aus den Anzeichen der Unregierbarkeit unseres Landes. Im Großen und Ganzen, so dachte ich, könnten die Mocks, die Vranitzkys und ihre von ihnen geliebten Nachfahren an der Macht bleiben, ohne dass sie selber die innenpolitische Stagnation aufbrechen müssten. Der Aufbruch, so unterstellte ich es unseren braven Politikern, würde von außen passieren, und sie, die Kaste der österreichischen Parteifunktionäre, könnten dann in aller Ruhe einen modernen Staat regieren.

Man sieht, wie leicht sich – angesichts der Lage – paranoides Gedankengut in die politische Meinungsbildung einschleicht. Außerdem war ich nie „europäisch“, ich war immer anglophil, so lange, bis Frau Thatcher mit ihrer „Freedom and democracy“-Gesinnung dieses wunderbare Land in die Knie zwang, um es unter den Lobgesängen ihrer Anhänger zu veröden. Aber in den Sechzigerjahren, in denen ich London erlebt hatte, bekam ich etwas von einem Aufschwung, von einer Befreiung mit, die ein Kollektiv erfasst hatte. Individuelle Aufschwünge (und Abstürze) kannte ich zur Genüge. Aber dass John Donnes „No man is an island“ wahr sein konnte, das war in jenen Jahren die Neuigkeit, die ein reduziertes Individuum wie mich ­ermunterte.

Für die EU stimmte ich eines Artikels wegen, der mich beschämte. Der Artikel war in der Zeitschrift Neues Forum, die es heute auch nicht mehr gibt, erschienen. Es war politische Philosophie: Ohne moralisierenden Unterton wurde mir vor Augen geführt, was für ein Projekt die EU war, ein Friedensprojekt, durch das endlich die Energien, mit denen die europäischen Länder einander unermüdlich geschadet hatten, synchronisiert werden konnten.

Dass das keine Idylle wird, war klar, und dass die in Sonntagsreden ausgewogenen Einzelinteressen triumphieren würden, ebenso. Aber es war immerhin, vor allem in der Rückschau auf die grauenhafte Vergangenheit, eine Idee, es war der Umriss einer Zukunft, für die man das Risiko eingehen sollte. Das Risiko, dachte ich, war das aller Großreiche: Was am Rande passiert, erschüttert das Zentrum …

So saß ich in Gösing, in einem Hotel mitten im Wald, über den Ötschergräben, und ich hörte im „Mittagsjournal“ die Freudenschreie unserer Politiker: Sie waren aufgenommen worden in den größeren Zusammenhang, in das geniale Ganze.

Eine richtige Größe

Flucht vor der Größe“ lautete die Formel, mit der Hans Weigel beschrieb, wie bedeutsame Österreicher sich einst um ihre Bedeutung drückten: Grillparzer, Stifter, Raimund, Nestroy, Schubert, Johann Strauß. Sie vollendeten, folgt man Weigel, sich lieber im Unvollendeten. Heute kann man beobachten, wie man im Lande bei der Größe Zuflucht nimmt oder, besser, bei den Größen, die man unbedingt für solche hält. „Gerhard Zeiler (55)“ zum Beispiel, „erfolgreicher Fernsehmanager mit internationalem Karriere-Nachweis … Zeiler gilt als harter Unternehmensführer mit einem ausgeprägten Riecher fürs Programm.“

Der ist natürlich eine Größe, eine so überragende, dass sogar die Krone von den Kleingeistern herumkrakeelt, die ihn nicht an die Spitze des ORF lassen. Einer solchen Größe müsste man einen roten Teppich auslegen! Leider habe ich ebenfalls einen ausgeprägten Riecher fürs Programm, und das von RTL stinkt seit jeher. Vorbildlich finde ich die Sendung „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“, in der Menschen am Ende ihrer Prominenz schnell noch in irgendwelche Tierhoden beißen oder sich ein paar Würmer zu Gemüte führen. Das ist eine ganz wichtige Sendung, weil für diese Gesellschaft Menschen gut zu brauchen sind, die sich wie zum Vergnügen demütigen und dabei zusehen lassen. Damit es alle begreifen, werden die freiwillig Erniedrigten und Beleidigten von einer unbeseelten Hübschen und von einem fetten hässlichen Komiker in der Sendung höhnisch kommentiert.

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